Der Missbrauchskomplex von Lügde bedeutet einen Einschnitt. Deutschlandweit wurde plötzlich sehr präsent über das Thema gesprochen – und es wirkt noch heute nach. Auch heute noch bekommen gerade Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder mediale Aufmerksamkeit. Und das ist gut. Denn Kinderschutz ist nichts, was nur Fachkreise was angeht. Sondern uns alle. Und deshalb ist jede Debatte, jede Berichterstattung,– wenn es im Sinne der Geschädigten, der Kinder geschieht und nicht Clickbaiting ist, gut.
Aber, Gewalt gegen Kinder, das ist nicht nur sexueller Missbrauch. Das ist auch körperliche und psychische/emotionale Gewalt. Bei fast 60.000 Kindern wurde in Deutschland 2021 eine so genannte Kindeswohlgefährdung festgestellt. Was heißt das? Kindeswohlgefährdung – das ist ein Begriff der immer wieder auftaucht. Er wirkt so klar, so eingängig. Das Wohl des Kindes ist gefährdet. Schnell entsteht der Eindruck: Kind in Obhut nehmen, Gefahr abgewendet, alles Friede, Freude, Eierkuchen. Ist es so einfach? Nein, das ist es nicht.
Ich habe einige der jährlich rund 60.000 Fälle begleitet. Ich hätte viel zu erzählen: Von Kindern mit verdächtigen blauen Flecken - aber nachvollziehbaren Erklärungen zur Ursache. Von Inobhutnahmen nachts um 22 Uhr, bei denen ich noch immer Gänsehaut bekomme, wenn ich daran denke. Weil dieser Wunsch der Kinder, raus aus der Familie zu kommen so groß war. Ich könnte von herausragender Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und freiem Träger berichten und von Zusammenarbeit, bei der ich schier wahnsinnig geworden bin. Vom Verdacht der sexuellen Gewalt gegen Kinder und der Machtlosigkeit des Hilfesystems und von Eltern, die trotz all den Dramen, den sie selber erlebt haben, ihren Kindern ein gewaltfreies Aufwachsen ermöglichen wollen – und dafür einen harten persönlichen Weg gehen.
Kinderschutz lebt davon, dass Menschen engagiert dabei sind, sich ein bringen, für die Kinder Partei ergreifen. Dabei ist es nicht entscheidend, ob jemand viel Berufserfahrung hat oder gerade von der Uni kommt. Entscheidend ist, hinzuschauen, wahrzunehmen, nachzufragen, sich auszutauschen und vor allem Ernst zu nehmen.
Kinderschutz geht auch auf politischer Ebene nur miteinander. Und: am Ende findet Kinderschutz in der Praxis vor Ort statt. Unsere Aufgabe als Politik muss sein, gesamtgesellschaftlich für eine Sensibilisierung bzgl. des Themas zu sorgen. Dafür zu sorgen, dass über Kinderschutz gesprochen wird. Empowernd und stärkend - ohne Missbrauchshandlungen verbal zu reproduzieren. Und nicht im Versuch, ein parteipolitisches Kalkül daraus zu ziehen.